Kann es so etwas wie Normalität geben, wenn weiterhin Hunderte von Menschen in Nordbosnien ausharren, weil ihre Reise nicht weitergeht? Wenn sie schon seit mehreren Monaten, teils mehreren Jahren, in prekären Verhältnissen leben? Wenn Menschen größtenteils in inoffiziellen Siedlungen wohnen? Oder aber in offiziellen Camps, in denen die Lebensverhältnisse, wie viele Menschen beschreiben, noch schlechter sind als draußen? Eine Frau wurde vor kurzem mit ihrer Familie in das von der IOM (Internationale Organisation für Migration) betrieben Familiencamp Borići gebracht. Mittlerweile sind sie zurückgekehrt, zurück in ein von ihnen vorübergehend bewohntes großes Haus ohne verglaste Fenster. Sie deutet auf das sie umgebende 30 Quadratmeter große Zimmer und sagt: «In so einem Raum wohnen in Borići vielleicht 30 Menschen.»
Kann es so etwas wie Normalität geben, wenn Menschen in den inoffiziellen Siedlungen in konstanter Unsicherheit und Ungewissheit leben, ob nicht doch demnächst eine polizeiliche Räumung angeordnet wird? Vor zehn Tagen wurde in Velika Kladuša zum wiederholten Mal ein Haus geräumt, in dem sich mehrere Familien aufhielten. Als die Polizei kam, hatten die Bewohner*innen nur wenige Minuten, um die wichtigsten Gegenstände zusammenzuraffen. Danach wurden, wie ein Familienvater uns berichtete, alle anderen Gegenständen aus dem Haus geworfen. «Außerdem haben sie vor den Augen meiner Kinder drei Fußbälle grundlos zerstochen.»
Kann es so etwas wie Normalität geben, wenn die Polizei routinemäßig Menschen ihre wenigen verbliebenden Gegenstände wegnimmt? Handys, Kleidung, Schlaf‑säcke werden nach dem Versuch, die Grenze zu überqueren, abgenommen und zerstört. Wie viele Menschen schildern, verbrennt die Polizei diese Dinge meistens direkt an Ort und Stelle. Ein junger Mann berichtete uns gestern von seiner Begegnung mit der kroatischen Polizei. «Sie wollten uns alles wegnehmen, sogar unser Brot. Ich meinte zu dem Beamten, dass sie unsere Handys, unsere Kleidung nehmen können. Aber nicht unser Brot. Für so viele Kulturen ist es ein Vergehen, Essen zu verschwenden. Aber er nahm es trotzdem.»
Kann es so etwas wie Normalität geben, wenn jeden Tag Dutzende von Menschen Polizeigewalt erfahren? Wenn sie nach dem Versuch, die kroatisch-bosnische Grenze zu überqueren, verprügelt, getreten, gedemütigt und im Anschluss wieder irgendwo entlang der bosnisch-kroatischen Grenze ausgesetzt und nach Bosnien zurückgedrängt werden? Wie die Berichte des Border Violence Monitoring Networks, das NNK mitgegründet hat, belegen, setzt die kroatische Polizei physische Gewalt, Schlagstöcke und Hunde ein. Auch Kettenabschiebungen von Slowenien über Kroatien sind keine Seltenheit, sondern etwas, wovon uns Menschen tagtäglich berichten.
Vor zwei Tagen trafen wir einen 24-jährigen Mann, der bereits länger in Bosnien ist und die Sprache mittlerweile gut beherrscht. Er hat ein Fahrrad aus Bosnien über die bosnisch-kroatische Grenze getragen und ist anschließend mit diesem Fahrrad durch Kroatien weitergefahren. Nach 30 Kilometern wurde er in einer Verkehrs‑kontrolle ausgesondert, aufgegriffen. Die Beamten verprügelten ihn. Er hat Verletzungen an Füßen, Händen, im Gesicht, aber besonders an den Beinen. Er konnte verstehen, wie die Beamten auf Kroatisch sagten, dass er so schnell wohl nicht wieder Fahrrad fahren können wird.
Kann es so etwas wie Normalität geben, wenn regelmäßig grundlegende Menschenrechte missachtet werden? Wenn die «Kontrolle der Außengrenzen» bedeutet, systematisch gegen Grundnormen des Europa- und Völkerrechts zu verstoßen? Art. 32 und 33 der Genfer Flüchtlingskonvention und Art. 18 und 19 der Euro‑päischen Grundrechtecharta verbieten die Zurückweisung eines Menschen, der ein Asylgesuch stellt, in Gebiete, wo grundlegende Menschenrechte bedroht sind. Zusätzlich verbietet Art. 4 des Protokolls Nr. 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention Kollektivzurückweisungen. All diese Rechte werden systematisch, routinehaft, tagtäglich verletzt.
Das alles darf keine Normalität sein. Wir müssen immer wieder entsetzt sein, immer wieder aufschreien, immer wieder die politische Forderung an die EU richten: öffnet die Grenzen. Toleriert nicht, dass mehrere Mitgliedstaaten Menschen systematisch das Grundrecht auf einen Asylantrag verwehren. Findet eine Lösung, damit Menschen nicht ihrer Rechte beraubt werden. Diese Forderung muss von all dem, was hier in Nordbosnien tatsächlich erschreckend alltäglich geworden ist, befeuert werden und ihren Weg finden in den politischen Prozess, immer und immer wieder auf die Agenda gesetzt werden. Helft uns alle dabei. Spread the word.
Bis es soweit ist, wird es für uns als NNK weiterhin Normalität bleiben, unseren kleinen Beitrag hier vor Ort zu leisten: Kleidungsspenden zu verteilen, Schlafsäcke, Zelte, all das, was die Polizei den Menschen hier mit Regelmäßigkeit wegnimmt; mit unserem Vouchersystem insgesamt über 400 Menschen einen wöchentlichen Einkauf in zwei örtlichen Supermärkten hier in Velika Kladuša zu ermöglichen, bei dem sie frei entscheiden können, was sie essen möchten; mit Menschen zum Zahnarzt und zum Optiker zu gehen; Berichte über Grenzgewalt zu sammeln – und auch immer und immer wieder zu berichten, sichtbar zu machen, zu entnormalisieren.