Wir eröffnen heute diese Ausstellung mit Bildern aus Palästina. Dies symbolisiert gerade hier in Deutschland ein kleines Senfkorn Hoffnung. Inzwischen werden immer mehr Diskussionsräume zu Palästina verwehrt, eine kritische Debattenkultur hierzu ist mehrheitlich abhandengekommen. Es fällt immer schwerer, eine humane Haltung in Deutschland zu Palästina zu finden. Doch es ist ganz wichtig, uns immer wieder daran zu erinnern, dass Deutschland weit mehr als nur die offizielle Politik ist. Auch die vielen kritischen Stimmen gegen Krieg und Militarisierung, die für die Einhaltung des internationalen Rechts und eine permanente Feuerpause eintreten, auch das ist Deutschland. Ich möchte daher insbesondere Anette Klasing von der Stiftung die schwelle in Bremen für ihren unermüdlichen Einsatz danken. Auch als Räume verwehrt wurden, hat sie nicht aufgegeben. Auch den Kolleg:innen vom Alten Fundamt, dem Ausstellungsort, möchte ich herzlich für die Öffnung ihrer Räume für diese Ausstellung danken.
Die Bilder, die wir hier heute sehen, stammen vom Karimeh Abboud Fotografie-Wettbewerb an der Dar al-Kalima Universität in Bethlehem 2022. Karimeh Abboud (1893-1940) ist in Bethlehem geboren und war eine palästinensische Fotografin. Sie war eine der ersten professionellen Fotografinnen der arabischen Welt. Die Dar al-Kalima Universität vergibt den Karimeh Abboud Award seit 2016, um junge Fotograf:innen in Palästina zu fördern.
Die Ausstellung trägt den Titel „Bewohnte Räume”. In ihren Bildern haben junge Fotograf:innen aus Palästina jene Räume festgehalten, die mehr als nur physische Orte sind. Vielmehr haben sie Räume festgehalten, die für sie ein Symbol der Freude, der Unbeschwertheit, der Hoffnung repräsentieren. Räume, in denen sie Geborgenheit, Gemeinschaft, Liebe und Schutz erlebten. Jeder bewohnte Raum, der im Bild eingefangen wurde, erzählt eine Geschichte vom Leben, von Liebe und Kreativität. Trotz der Herausforderungen des Lebens unter Besatzung, des Eingesperrtseins, des Fehlens grundlegende Menschenrechte, springt ein Gefühl von Normalität, von Sehnsucht nach Freiheit, von Hoffnung auf die Betrachterin über.
Die Bilder der Künstler:innen aus Gaza erzählen von einer Zeit, als das Leben dort pulsierte, trotz allem und allem zum Trotz! Ja, in Gaza gab es trotz der jahrelangen Besatzung, der 16jährigen Blockade und der Kriege ein pulsierendes Leben. Heute, knapp zwei Jahre nach dem diese Bilder aufgenommen wurden, sind sie und der Titel – “Bewohnte Räume” – stumme Zeuginnen getöteter Menschen, zerstörter Orte und verdrängter Geschichten jahrzehntelanger Ungerechtigkeit, Leid und Vertreibung. Und hier ergibt sich eine Verbindung zu den Fotografien von Karimeh Abboud, die sie von Palästina in den 1920er und 1930er Jahren aufgenommen hat. Ihre Bilder wurden ein Jahrzehnt danach ebenfalls zu stummen Zeuginnen zerstörter Orte und verdrängter Geschichten von Ungerechtigkeit, Leid und Vertreibung. Wir gedenken des 76. Jahrs der Nakba und halten heute daran fest, dass Tod und Zerstörung nicht das letzte Wort haben werden, dass wir dazu berufen sind, ein Leben in Fülle zu führen.
Bei dem Wettbewerb 2022 haben drei junge Männer aus dem Gazastreifen die ersten drei Plätze errungen. Den ersten Platz gewann Mohammed al Rifi mit seinen Bildern vom Meer in Gaza: Bilder, die ein unbeschwertes, fast kindliches Leben an den Stränden Gazas festhalten. Platz zwei gewann Nidal al Wahidi mit seinen Bildern “Die Augen Gazas, die sich nach Frieden und Freiheit sehnen“: Bilder von Sonnenuntergängen an unterschiedlichen Orten in Gaza. Und den dritten Platz gewann Mutaz al Azaizeh mit seinen Fotos “Bewohnte Räume mit unseren Lieben“, in denen er das Zusammenkommen mit Familie und Freunden festhält.
Inzwischen wissen wir, dass Mohammed al Rifi (1. Platz) einer derjenigen war, die bei dem Massaker bei der Mehlverteilung am 29.02. getötet wurden, als er für sich und seine Familie Essen besorgen wollte. Nidal al Wahhidi (2. Platz) wird seit Oktober vermisst, und Mutaz al Azaizeh (3. Platz) hat es inzwischen geschafft, aus Gaza herauszukommen, was an ein Wunder grenzt. Drei Menschen, drei Schicksale, die keinesfalls individuelle Geschichten sind, sondern vielmehr das Schicksal von 2,2 Millionen Menschen in Gaza spiegeln. Ja, heute sind diesem Krieg in Gaza unzählige Menschen zum Opfer gefallen; die Mehrheit ist auf der Flucht, viele werden vermisst und einige wenige schaffen es, mit viel Strapazen und viel Geld aus Gaza herauszukommen.
Doch selbst inmitten des Kriegs, des Todes, des Verhungerns, des Verlustes brennt heute eine zarte Kerze der Hoffnung, denn die Namen, Geschichten und Bilder dieser drei Künstler sind heute hier und werden im Bewusstsein und in den Seelen vieler lebendig bleiben. Das zu sagen, hört sich banal, ja fast pathetisch an. Doch ich erinnere mich an die Worte eines jungen Mannes aus Gaza, der im Oktober in den sozialen Netzwerken folgende Nachricht schrieb:
„Mein Name ist Khalil; ich bin 27 Jahre alt. Ich habe englische Literatur studiert, und ich habe viele Träume, Ziele und bin ehrgeizig. Ich kann lieben, ich kann freudig sein, ich kann arbeiten und Erfolg anstreben. Sollte ich getötet werden, dann will ich nicht als bloße Nummer enden. Nennt meinten Namen, hört euch meine Geschichte an und haltet mich im Gebet. Ich bin keine Nummer, ich bin ein ganzes Universum!”
Als die Dar al-Kalima Universität sich im Bereich Kunst zu engagieren begann und die verschiedenen Bildungszweige hierzu aufbaute, geschah dies aus der Überzeugung heraus, dass Kunst mehr ist als nur ein Ausdruck von Kreativität. Kunst ist auch eine Form des Überlebens, der Trauma-Verarbeitung, des kreativen Widerstandes; ein Widerstand gegen das Verdrängen und Vergessen; eine Form, die Zukunft zu gestalten.
Die letzten Monate haben die Menschen und ihre bewohnten Räume im Gazastreifen auf eine Weise verändert, für die ich heute keine Worte finde, denn angesichts des Grauens sind Worte hohl und schal.
Vielmehr möchte ich auf jene Menschen die Aufmerksamkeit lenken, die immer wieder neue Wege zum Überleben und zu mehr Humanität ermöglichen. Ich denke heute ganz besonders an jene jungen Studierenden der Dar al-Kalima-Universität in Gaza, die gerade jetzt, obwohl sie selbst alles verloren haben und sich auf der Flucht befinden, mit vertriebenen Kindern in Rafah mit dem Medium der Kunst, des Theaters und der Musik arbeiten. Inmitten der Zerstörung, der Zelte, des Elends, erschaffen dieser jungen Menschen neue „Bewohnte Räume“, in denen sie Kindern und jungen Menschen helfen, ihre Ängste und Traumata für eine kurze Weile zur Seite zu stellen und ihre Sehnsüchte zum Ausdruck zu bringen, damit ihre Menschlichkeit am Leben bleibt. Durch ihren Einsatz mitten unter den Vertriebenen verbinden sie Menschen miteinander; sie schaffen neue „Bewohnte Räume“, wo Zerstörung und Tod herrschen; sie lassen uns die Hoffnung auf Empathie für jene Menschen spüren, die von der Welt verlassen wurden.
Sehr geehrte Gäste,
in diesem – hier und jetzt – bewohnten Raum der Ausstellung, weht ein leiser Hauch von Hoffnung; nicht nur für Palästina, sondern auch für Deutschland. Wir mögen Krieg, Tod, Hunger und Ungerechtigkeit nicht beenden können, doch die Menschen in Palästina nicht aus den Augen zu verlieren, ihnen Gesichter, Namen und Geschichten zu geben, ihrer Dehumanisierung mutig und entschieden entgegen zu treten und Gerechtigkeit, Empathie und Solidarität einzufordern und umzusetzen, das können wir. Möge es uns gelingen.
Partnerprojekt in Israel und Palästina: Combatants for Peace