Das Leben wieder in die Hand nehmen
Hoffnung kann eine Packung Babymilchpulver sein, wenn ringsherum die Welt in Trümmern liegt. „Für uns ist das ein Zeichen der Liebe. Jeder Tropfen Milch und jeder Löffel Babybrei gibt den Menschen, die beim Erdbeben alles verloren haben, etwas Zukunftshoffnung“, sagt Yavuz Binbay, Präsident von Sohram-Casra. Das Rehabilitationszentrum im türkischen Diyarbakır kümmert sich vor allem um Opfer von Folter und Gewalt sowie um die zahlreichen Flüchtlinge aus dem benachbarten Syrien. Als das Erdbeben über die kurdische Grenzregion zwischen Syrien und der Türkei hereinbricht, schaltet das Hilfszentrum praktisch über Nacht auf Katastrophenhilfe um: „Die Situation ist traumatisch, aber die Menschen möchten auch ihr Leben in die Hand nehmen. Sie wollen raus aus der Trauer, die sie gefangen hält, und suchen sich psychotherapeutische Hilfe, die wir als eine der wenigen Organisationen anbieten.“
Hotline vernetzt Opfer und Helfer
Tausende Gebäude sind allein in Diyarbakır zerstört oder schwer beschädigt. „Die Menschen haben Angst, in ihre Häuser zurückzukehren, weil sie befürchten, diese könnten nachträglich zusammenbrechen. Sichere Unterkünfte sind die wichtigste Herausforderung. Ich habe meine Kontakte zu verschiedenen Religionsgemeinschaften genutzt, die ihre Gemeinderäume geöffnet und deren Freiwillige Erdbebenopfer bei sich zu Hause aufgenommen haben. Das ist natürlich längst nicht ausreichend, aber trotzdem ein wichtiges Signal, dass die Opfer nicht vergessen sind.“ Sohram-Casra unterstützt mit Decken und dem Nötigsten, was die Menschen für den Alltag brauchen. „Wir haben eine Hotline geschaltet, um Opfer und Helfer zu vernetzen und Hilfsangebote zu koordinieren.“ Lebensmittelpakete werden gepackt, Einkaufsgutscheine ausgegeben.
Flüchtlinge am schwersten betroffen
„Die Flüchtlinge aus Syrien sind diejenigen, die am schwersten vom Erdbeben betroffen sind, weil sie keinerlei Hilfe vom türkischen Staat bekommen“, erzählt Yavuz Binbay. „Sie arbeiten als Tagelöhner, jetzt sind ihre Jobs und damit die ohnehin brü- chige Lebensgrundlage weg.“ Sie kämen nicht in die Zelte und Notunterkünfte hinein, weil diese nur türkischen Staatsbürgern offen stehen: „Die Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien lebten in Slums, wo kaum noch ein Gebäude steht. Jetzt müssen Zehntausende allein in Diyarbakır auf der Straße leben. Türkische Bürger bekommen eine staatliche Soforthilfe von 15.000 Lira, Flüchtlinge nichts. Das ist eine rassistische Politik der türkischen Regierung. Es gab sogar politische Parteien, die nach dem Beben Falschinformationen über Geflüchtete verbreiteten. Sie behaupteten, eine Millionen Flüchtlinge seien nach dem Beben in die Türkei gekommen und hätten die ganze Hilfe in Anspruch genommen.“ Das sei eine Lüge, empört sich Binbay: „Da werden Opfer gegen Opfer ausgespielt, um vom Versagen der staatlichen Hilfe abzulenken.“
Jede Familie in der Türkei trauert
Yavuz Binbay hat selbst zwei Cousins und insgesamt ein Dutzend Angehörige durch das Erdbeben verloren. „Es ist nicht leicht, ich meditiere und brauche diese Momente, um zur Ruhe zu kommen. Gleichzeitig spüre ich, dass ich trotz meiner Trauer tätig sein muss. In der Türkei beklagt jede Familie Opfer und trauert.“ Die psychotherapeutische Unterstützung werde SohramCasra noch für sehr lange Zeit anbieten müssen: „Die Trauer beginnt erst, die schrecklichen Bilder der Sterbenden und Toten unter den Trümmern haben sich den Menschen in die Seelen gebrannt. „Vor allem Kinder sind betroffen.“
„Leiden teilen macht Schmerz geringer“
Menschlichkeit kennt für Sohram-Casra keine Religionsgrenzen. Yavuz Binbay gehört zum Sufismus, einer asketischen und mysthischen Strömung des Islam. „Als Sufi bin ich den Christen ein Christ, den Muslimen ein Muslim, den Buddhisten ein Buddhist oder den Juden ein Jude. Wir haben einen einzigen Gott.“ Binbay, als Kurde selber Folteropfer des türkischen Staates, ist ein frommer Mensch. Seine Familie pflegt seit langem zu allen Religionen freundschaftliche Kontakte. „Ich habe alle Leiden der Welt am eigenen Leib und Seele erfahren, war zutiefst hoffnungslos, als ich den Schmerz der Folter erlebte. Diese Erfahrungen werde ich nie vergessen, deshalb habe ich später begonnen, anderen Opfern zu helfen. Wenn ich das Leiden anderer teile, wird mein Leiden geringer. Als ich das gelernt hatte, konnte ich weiterleben. Mir ist das Wort Jesu wichtig, dass wir Böses nicht mit Bösem vergelten sollen. Jesus ist ein Licht für uns Sufis, seine Liebe zu den Menschen leitet uns. Immer wenn mich etwas tief verletzt hat, erinnere ich mich daran, und das gibt mir die Kraft, weiterzumachen.“
Text: Matthias Dembski Fotos: Sohram-Casra
Sohram-Casra
Sohram-Casra ist ein Rehabilitationszentrum in Diyarbakır für Opfer von Folter und Gewalt. Das Zentrum engagiert sich gegen Gewalt in vielen Formen, sei es durch Krieg oder Bürgerkrieg, häusliche Gewalt, sexuelle Belästigung oder Diskriminierung aufgrund ethnischer und religiöser Zugehörigkeit. Sohram-Casra unterstützt die Rehabilitation und Wiedereingliederung von Folteropfern und nimmt sich Flüchtlingen vor allem aus dem benachbarten Bürgerkriegsland Syrien an. Bildungsangebote, ein Second Hand-Laden, juristische Unterstützung und Traumatherapie gehören zu den Angeboten. 2.000 Kinder nehmen an den Bildungsprogrammen teil, 3.500 Gewaltopfer hat das Zentrum betreut. Etwa 120 Freiwillige engagieren sich als Lehrer und Sozialbegleiter, die überwiegend selber früher von Sohram-Casra betreut wurden. Das Zentrum hat vier angestellte Psychologen, eine Sozialarbeiterin, eine Sekretärin – alles andere läuft ehrenamtlich.
Der Präsident und Gründer von Sohram-Casra ist Kurde und wurde schon mit 15 verhaftet und gefoltert. Über sieben Jahre hat der Geologe und Ingenieur in Haft verbracht; er trägt noch heute schwere Spuren von Folterungen. Sein traumatisches Leiden veranlasste den mutigen Mann, sich nach der Entlassung 1985 für die Rehabilitation ehemaliger Mitgefangener einzusetzen, die ebenfalls gefoltert worden waren. Schwer verletzt überlebte Yavuz Binbay 1994 den vierten an ihm verübten Mordanschlag, fand mit seiner Familie in Genf Asyl und knüpfte Verbindungen zu vielen Menschenrechtsorganisationen. Doch die Situation in seiner Heimat ließ ihn nicht los, und so ging Yavuz Binbay 1997 zurück nach Diyarbakır, wo er drei Jahre später das Fundament für sein Hilfswerk SOHRAM legte.
Leid in Zahlen
„Das Erdbeben ist eine Jahrhundertkatastrophe, wie wir sie noch nie erlebt haben“, sagt Yavuz Binbay von Sohram-Casra:
- mehr als 50.000 Menschen sind bei dem Beben gestorben
- 15 Millionen Menschen sind betroffen
- Die betroffene Region ist doppelt so groß wie die Schweiz
- elf Städte sind schwer zerstört
- 700.000 Häuser sind zerstört, eine Millionen Wohnungen mehr oder weniger beschädigt
Was gebraucht wird
Sohram-Casra benötigt weiterhin Geldspenden, um damit Lebensmittel, vor allem Baby- und Kleinkindernahrung, einzukaufen. Auch die professionelle psychotherapeutische Unterstützung muss finanziert werden. Die Bremer Stiftung „Die Schwelle“ leitet Spenden mit dem Vermerk "SOHRAM-CASRA - Erdbehenhilfe" direkt an Sohram-Casra weiter. Auch die Bremische Evangelische Kirche hat direkt nach dem Erdbeben 5.000 Euro gespendet.
Dank
Die Stiftung die schwelle dankt allen großzügigen Spendern.