Yavuz Binbay, Gründer und Direktor des Zentrums, empfing uns im 4. Stock eines Wohnhauses, wo zwei Wohnungen für Büros, Therapie- und Seminarräume genutzt werden.
Das Zentrum stellt viele Angebote für Kinder verarmter Familien zu Verfügung: Kinder von geflüchteten Familien aus Syrien, aber auch Binnenvertriebene und Kinder von türkischen Familien aus Diyarbakır. Die psychotherapeutische Hilfe wird zu 20 % von Folteropfern und 80% von Opfern von häuslicher Gewalt und Kriegsgewalt in Anspruch genommen.
Da es Samstagvormittag war, war viel los in den Räumlichkeiten. Viele Kinder, manche helfenden Mütter und die Angestellten und einige Ehrenamtliche des Zentrums begrüßten uns freundlich.
Am Wochenende wird Nachhilfeunterricht für ca. 148 Schüler:innen angeboten, deren Mütter zum Teil auch anwesend sind und z.B. in der Küche helfen. Die Schüler:innen sind überwiegend aus Syrien Geflüchtete, die wegen unzureichender Türkischkenntnisse in der Schule schwer folgen können. Nach Abschluss der Schulen werden z.T. Stipendien für Universitäten vergeben. Die Lehrer:innnen sind häufig ehemalige Schüler:innen des Zentrums, die jetzt studieren oder schon als Lehrer:innen arbeiten.
Im Gespräch erläutert uns Yavuz Binbay gemeinsam mit den vom Zentrum Beschäftigten die Arbeit von SOHRAM-Casra. Geleitet wird das Projekt von einem Vorstand aus sieben Personen. Die tägliche Arbeit wird von wenigen Angestellten (Geschäftsführung, Finanzverwaltung sowie zwei Therapeut:innen) und sehr vielen ehrenamtlich Engagierten geleistet. Neben den zahlreichen Lehrerkräften gibt es auch einige Jurist:innen, die kostenfrei Fälle der Klienten vor Gericht vertreten können.
Ein weiteres wichtiges Element der Arbeit von Sohram sind öffentliche Ereignisse wie Festivals und Picknicks, zu denen viele Leute kommen und SOHRAM die Möglichkeit nutzt, über ihre wichtigen Themen zu informieren, wie z.B. häusliche Gewalt, staatliche Folter und Todesstrafe. Damit machen sie diese Themen öffentlich und hoffen, dass sie aus der Tabuzone herauskommen, öffentlich diskutiert und so langfristig überwunden werden.
Die Menschen, die wir im Zentrum kennenlernten, arbeiten mit Kindern und Erwachsenen in Not. Der interreligiöse Dialog, so scheint es, ist Yavuz Binbays Arbeitsbereich. Das konnten wir bei den folgenden Besuchen erleben.
Beeindruckend war der anschließende Spaziergang in Diyarbakır, bei dem wir zunächst die große zentrale Moschee der Stadt besuchten, die ehemals eine christliche Kirche war und davor ein vorchristlicher Tempel. Anschließend besuchten wir zunächst die Chaldäisch-Katholische und danach die Armenisch-Orthodoxe Kirche. Diese hatte nach dem Erdbeben 19 Familien aufgenommen. Diese verantwortliche Haltung ist auch für die Wahrnehmung dieser religiösen Minderheit in der Öffentlichkeit wichtig gewesen.
Am folgenden Tag haben wir einige Fragen zu Entwicklungen im gesellschaftlichen Umfeld vertieft.
Yavuz erklärte, wie die Region seit Jahrtausenden die Wiege der Zivilisation und vieler religiöser Gruppen ist: Juden, Assyrer, Armenier, Syrer, Araber. Dazu kamen später verschiedene christliche und muslimische Gruppen. Die Stadt war historisch kein kurdisches Zentrum, die Kurden sind, wie auch die ethnischen Türken, zugewandert und bilden eine große Gruppe, aber keine Mehrheit. Die Stadt ist bis heute von vielen unterschiedlichen Gruppen bewohnt.
Bei Volkszählungen wird inzwischen weder nach der Religion noch nach der ethnischen Zugehörigkeit gefragt, auch im Pass wird das nicht mehr notiert. Alle sind türkisch im Sinne der Nationalität, aber nicht als ethnische Gruppe. Die Sprachpolitik wurde bereits vor 15 Jahren liberalisiert: Heute kann jede und jeder seine Sprache sprechen, Türkisch ist jedoch die erste Sprache in der Schule, andere Sprachen können als Zweitsprache gewählt werden.
Am Nachmittag sind wir mit Yavuz zu einem Zentrum der Aleviten in Diyarbakır gefahren. Aleviten sind Mitglieder einer insbesondere in der Türkei beheimateten Glaubensrichtung, die den Schwiegersohn Mohammets, Ali, als Gründer ihres Glaubens anerkennen. Sie beziehen ihren Glauben auf diese Tradition, ohne den Koran als geschriebenen Text als Referenz zu akzeptieren und begreifen sich darum auch nicht als Muslime.
Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Nächstenliebe, Bescheidenheit, Humanismus sind für den alevitischen Glauben ausschlaggebend. Die Gemeinschaft basiert auf der freien Entscheidung des einzelnen und nicht auf bestimmte Rituale.
Auch der letzte Tag unserer Reise war mit einer Fahrt nach Mardin, ca. 100 km südlich, direkt an der syrischen Grenze gelegen, dem interreligiösen Dialog gewidmet. Bei der Einfahrt passieren wir eine 20-25 Jahre alte Neustadt, viele Hochhäuser mit sehr vielen Wohnungen, um dann auf dem Berg in den engen und übervollen, wunderschönen Straßen und Gassen der Altstadt anzukommen.
Wir besuchten die Kirche der 40 Märtyrer, eine Medrese (eine theologische Schule) und das Kloster der Syrisch-Aramäisch Orthodoxen Kirche.
Die Christ:innen der unterschiedlichen Denominationen leben untereinander und auch gegenüber der weiteren Bevölkerung in Frieden. Beeindruckend war, wie das Kloster auf dem bis zu 5000 Jahre alten Tempel der die Sonne anbetenden alt-mesopotamischen Šamaš -Religion gebaut wurde Der frühere Sonnengott wurde von den frühen Christen in Jesus als Lichtbringer interpretiert. Aramäisch (die Sprache, die Jesus gesprochen hat) ist heute die religiöse Hochsprache der Syrisch-Aramäischen Kirche. Die Gemeinde spricht auch als Alltagssprache aramäisch. Ihre Gebetshaltung – so wurde uns erklärt – ähnelt in unseren Augen „muslimischen“ Gebetsritualen, was sich dadurch erklärt, dass einer der ersten theologischen Lehrer Mohameds syrisch-aramäischer Christ war.
Sowohl der Priester der Kirche als auch der Metropolit im Kloster waren sehr nahbare und offene Persönlichkeiten, die sehr direkt und ohne Komplikationen mit uns kommunizierten. Sie verstehen sich als Friedenskirche, die Gewaltfreiheit als Prinzip pflegt. In diesem Sinne wirken sie in ihrer Synode und auch in interreligiösen Kontakten und Konferenzen.
Nach drei sehr vollen Tagen, an denen wir die Arbeit von SOHRAM-CASRA miterleben durften und Yavuz Binbay uns viele spannende Begegnungen ermöglicht und Gespräche vermittelt hat, verabschiedeten wir uns mit einem Gefühl der Dankbarkeit und Verbundenheit.
Bericht der Reisegruppe
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schwelle Projektpartner SOHRAM-Casra
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